20.8.12

Walter Serner über „Kleidung und Manieren“

Walter Serner (1889-1942)

„Huren machen oft während des Stehens oder beim Umkehren Bewegungen mit dem Absatz, die auf den ersten Blick die Straßen-Habituée verraten. Hast nicht auch du kleine Gewohnheiten, die mehr von dir preisgeben, als rätlich ist?“

So fragt Walter Serner, der Ende August vor siebzig Jahren starb, in seinem Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen (1927). Ob es in diesem Handbuch noch etwas zu lernen gibt? Durchaus: am Ende dieser Einleitung sind einige erbauliche Fragmente zu „Kleidung und Manieren“ zu finden.

Das Handbrevier wird oft als frecher, unverblümter, nihilistischer Leitfaden für Angeber beschrieben. Ein Herausgeber nennt es einen „Knigge für Zyniker“, der „in jeden Smoking gehört“. Vergisst man den Tratsch für eine Sekunde, bleibt eine Tatsache: so wie es Moralisten gibt (Pascal, La Rochefoucauld – und den Dr. phil. Jakob Fabian), gibt es auch Amoralisten. Sie sind nicht weniger an der Ethik interessiert als die Moralisten, und auch ihnen brennt die Frage unter den Nägeln, wie denn zum Teufel man zu leben hat. Und so ist die Kunst von Serners Handbrevier für Hochstapler weniger eine Trick-Kunst als eine Gesellschaftskunst. Und mehr als das – Stichwort: zôon politikonist sie Lebenskunst. Zwei angesehene Vorfahren des Handbreviers: Ovids Ars amatoria und Baltasar Graciáns Handorakel (1647).

Walter Serners Leben war – um das Mindeste zu sagen - abenteuerlich. Am 15. Januar 1889 als Sohn jüdischer Eltern in der tschechischen Stadt Karlsbad (heute Karlovy Vary) geboren, studierte er Jura in Wien und Greifswald. Dass er die Staatsprüfung bestehen konnte, hatte er, laut seinem eigenen Bericht, nur Ovid zu verdanken: „ich brachte nämlich das Gespräch auf ihn, und da meine Examinatoren Menschenkenner waren und echte Humanisten, wurde ich doctor utriusque juris“ (aus Serners zweiseitiger Autobiographie: „Ich“ [1925]).

1911 ging Serner nach Berlin, wo er sich vierzehn Tage hindurch langweilte, „weil ich nachts schlief“. (Später wurde es besser: „Als ich anfing, es umgekehrt zu halten, amüsierte ich mich drei Jahre…“). In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg lebte er auch zeitweise in Karlsbad und Paris. 1915 zog er, wie viele Kriegsgegner und pazifistische Künstler jener Zeit, nach Zürich.

In Zürich lernte Serner den Maler Christian Schad kennen, der zu seinem engsten Freund wurde, und schloss sich 1917 dem Mouvement Dada an, das ein Jahr zuvor von Tristan Tzara, Hugo Ball, Hans Arp u.a. im legendären „Cabaret Voltaire“ gegründet worden war. Die Dadaisten, die eine der ersten und wichtigsten Avantgardebewegungen des 20. Jh. bildeten, wehrten sich bekanntermaßen gegen die Werte der bürgerlichen Gesellschaft mittels irrwitziger Sprach- und Kunstexperimente, sowie clownesken Geschreis. (Diese werden in Schads wunderbaren Erinnerungen an Serner lebhaft beschrieben: Relative Realitäten [Augsburg: MaroVerlag 1999].)

1918 schrieb Serner in Lugano die Letzte Lockerung – Manifest Dada, das aber erst 1920 veröffentlicht werden konnte (später wurde sie zum ersten Teil des Handbreviers). Inzwischen hatte sich Tzara des Inhaltes der Letzen Lockerung großzügig bedient (Schad und André Breton sagten es deutlicher: es ging einfach um ein Plagiat von Serners Manifest vonseiten Tzaras) und sein eigenes Dada Manifesto veröffentlicht (1918), wodurch er in Paris zum größten Guru des Dadaismus wurde. Serner entfernte sich von den Dadaisten um Tzara, fing ein äußerst unstetes Reiseleben an (oder besser: setzte es fort) zwischen Spanien, Frankreich Italien, Deutschland, Österreich und der Schweiz – und wandte sich der Kriminalliteratur zu.

Serners erzählerisches Werk kann in vier Kategorien eingeteilt werden: i) Gauner-Geschichten, ii) Prostituierten-Geschichten, iii) Zuhälter-Geschichten, iv) Liebesgeschichten zwischen Prostituierten und Zuhältern. Seine literarischen Werke sind vier Bände „hanebüchener Geschichten“, der mehr oder weniger berühmte Zuhälterroman Die Tigerin – Eine absonderliche Liebesgeschichte (1925; verfilmt 1992), und das Gaunerstück Posada oder Der große Coup im Hotel Ritz, das im März 1927 im Berliner Theater am Zoo aufgeführt wurde – nämlich einmalig, denn wie es in der späteren Buchausgabe steht, wurde „gegen die Absicht der Direktion, die Aufführung zu wiederholen … von der Polizeibehörde Einspruch erhoben“.

Serners Ruf war nie besonders gut – was ihm eine Zeit lang nicht missfiel. Sein Verleger Paul Stegemann schilderte ihn mit folgenden Worten: „Er ist internationaler Hochstapler im allergrößten Stil. Seine Lehrjahre verlebte er in Paris als Zuhälter. In seinen Büchern steht nichts, was nicht gelebt wurde“ usw. Als ihm das Pflaster zu heiß wurde, dementierte Serner dies in der erwähnten Autobiographie. Bald aber standen seine Werke auf den Listen der „Schund- und Schmutzschriften“ unterschiedlicher Landesjugendämter. (1931 konnten nur Gutachten von Alfred Döblin und Max Herrmann-Neisse das Verbot der Tigerin verhindern.)

1925 schrieb der berühmte Kritiker Theodor Lessing eine lobende Rezension der Bücher Serners. Daraufhin veröffentlichte Alfred Rosenberg, Ideologe der NSDAP, ein Artikel gegen Lessing und Serner, der mit den Worten schließt: „Leben heißt für den Juden: Moder schaffen und als Wurm in ihm wirken“. (Lessing wurde 1933 von nationalsozialistischen Attentätern erschossen.) Der Krieg war also erklärt. 1927 schrieb Serner an Christian Schad: „ich werde so gehasst, man arbeitet so sehr gegen mich, dass ich anfange, die Sache ekelhaft zu finden“, weshalb er sich bald „abzukehren“ plante. Das tat er auch: kurz darauf hat sich Serner fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen (Auch Schad hat nie wieder von ihm gehört.)

Man weiß, dass Serner 1929 in tschechischen Hotels wohnte. Man weiß, dass er Anfang der dreißiger Jahre aus der Schweiz korrespondierte. Was danach passierte, war lange ungewiss. In seinen Erinnerungen schreibt Schad:

„Für möglich halte ich, dass Serner in die U.S.A. gegangen ist. … Eine andere Legende wieder lässt ihn in Südamerika ein abenteuerliches oder auch bürgerliches, auf jeden Fall literaturfreies Leben führen, ähnlich dem Rimbauds. Oder sollte er … vielleicht doch den Entschluss gefasst haben … unter anderem Namen eine bürgerliche-juristische Existenz zu akzeptieren.“

Heute wissen wir mehr. 1938 heiratete Serner die Berlinerin Dorothea Herz. Mit ihr ließ er sich in Prag nieder, wo er als Sprachlehrer arbeitete. Nach der Besetzung durch die Nazis stellte das Ehepaar zwei mal Ausreiseanträge nach Shanghai, die abgelehnt wurden. Serner und seine Frau lebten im Prager Ghetto bis 1942. Am 10. August dieses Jahres wurden sie von den Nationalsozialisten in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Zehn Tage später wurden sie weiter nach Riga abtransportiert, wo sie wahrscheinlich am 23. August ermordet wurden.

© HDCA, 2012 

Aus dem Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen

* Tue stets, als würdest du das Leben ernst nehmen. Die Klugen halten dich, falls sie es glauben, für vertrauenswürdig; glauben sie es nicht, für klug.

* Neigst du zum Exzentrischen, Überschwenglichen, so gestatte dich dir nur für den Privatgebrauch. Publikum würde dich schnell albern finden.

* Wer, kaum eingetreten ist, aller Augen sofort auf sich lenken will, ist entweder von Beruf Schauspieler oder ein erbärmlicher Stümper.

* Schweige nur dann lange, wenn du die Situation vergiften willst.

* Wortkarge Menschen sind im allgemeinen schwer zu behandeln. Behandle sie gar nicht: sie werden die Sprache wiederfinden.

* Will es dir nicht gelingen, über einen Menschen ins Klare zu kommen, so versuche, ihn dir nackt vorzustellen. Fällt diese Vorstellung zu seinen Gunsten aus, so hast du immerhin schon einen Schimmer von ihm.

* Wenn du nicht schön bist, so hast du es überall doppelt schwer. Sehr oft aber wirst du die Hälfte deiner Kräfte sparen können, wenn du eine schöne Person neben dich stellest und, falls es erforderlich sein sollte, an deiner Statt zurücklässt.

* Die Kleidung lässt nur dann einen Rückschluss auf den Träger zu, wenn es überhaupt nicht schwer fällt, diesen zu beurteilen. Wo du also Grund hast, anzunehmen, einen Kerl vor dir zu haben, übersieh vorerst seine Kleidung gänzlich. Hinterher vermag sie dir vielleicht etwas zu sagen.

* Durch nichts machst du dich schneller verdächtig als durch einen unbürgerlichen Lebenswandel, ohne dass es möglich wäre, zu erkennen, wo sein Vorteil liegt. Streue aus, dass du auf der Suche nach tüchtigen Automobil-Agenten seist, und alle Welt wird dir hoffieren.

* Sage niemals, auch wenn es der Fall ist, dein Smoking stamme aus Piccadilly. Man würde es dir nicht glauben, wenn du die Rechnung vorwiesest.

* Die Mode der schwarzen Hornbrillen, welche der Funktion obliegt, Geist anzuschminken, steht durchaus neben jenen Vollbärten, die aus dreißigjährigen Halunken fünfzigjährige Respektspersonen machen. Verzichte auf solche Kindereien, welche dir weniger Vertrauen eintragen als eine gut gewählte und raffiniert gebundene Krawatte.

* Schmutzig einherzugehen darfst du dir nur in sehr gefährlichen Fällen gestatten.

* Sei so kokett, wie es nur angeht. Aber sehr darauf bedacht, dass niemand es bemerkt. (Excepté: Unterwäsche und Kenner der großen Groteske.)

* Bei der Wahl deiner Kleidung lasse dich nur von deinem Privatgeschmack leiten. Er wird dir das Höchstmaß von Wirkung dadurch sichern, dass du dich in deiner Hülle nicht nur auf der Höhe fühlst, sondern überhaupt wohl. Denn auch, was im Allgemeinen nicht gefällt, wirkt, wenn es gut getragen wird.

* Zu Verkleidungen greife selten. Sie färben stets ein wenig auf dich ab.

* Bleibe in deiner Kleidung bei dem dir vorteilhaftesten Grundtypus, den du nur durch jene Modedetails variieren darfst, die für dich sich eignen. Sei lieber ein wenig unmodern als reduziert.

* Wenn dein Gesicht nichts weiter zu tun hat, wahre darauf stets einen leichten Schimmer angenehmer Unzufriedenheit.



21.5.12

Schuhe, Dreck und Moral

Zapatos viejos ('Alte Schuhe') - Cartagena, Kolumbien

In einer meiner ersten Kindheitserinnerungen sehe ich meinem Großvater zu, wie er im Hof seines Hauses, in einer Stille versunken, die ich heute nur als fromm beschreiben kann, seine Schuhe abwischt, eincremt, bürstet und poliert. Dies geschah jeden Tag und auch nicht selten fragte er, der sonst wenig sprach, irgendeinen Vertreter seiner zahlreichen Nachkommenschaft, ob er auch seine Schuhe putzen sollte. Wenn einer von uns sein Angebot nicht ganz apathisch entgegennahm, dann bemühte er sich, einem zu zeigen, wie Schuhe zu pflegen sind. Der Mann liebte saubere Schuhe.

Er war lange Jahre Polizist in Bogotá gewesen, in einer vergangenen Zeit, in der der Beruf noch als ehrenwert galt. Mit Eifer hatte er es bis zum Sergeant geschafft – für den Sohn einer armen kolumbianischen Provinzfamilie keine Selbstverständlichkeit. So liegt es auf der Hand, dass die Gewissenhaftigkeit, mit der er sich der täglichen Pflegeaktivität widmete, aus jenem Kant’schen Pflichtbewusstsein entsprang, das allen militärischen Berufen zugrunde liegt.

Für jeden, der meinen Großvater bei der Erfüllung der Sauberkeitsnorm aufmerksam beobachtete, musste es aber auch klar sein, dass er dabei eine Lebhaftigkeit verkörperte, die mit mehr als nur preußischem Quatsch zu tun hatte. Konrad Adenauer hat dieses besondere Gefühl einmal erklärt (offensichtlich ist auch er ein freudvoller Schuhputzer gewesen): „Das Glück besteht nicht in großen Erfolgen oder in der Sicherung des einmal Erreichten. Das Glück besteht allein in der Pflichterfüllung“. So weiß ich heute, ich, der selbst jahrelange, behagliche Erfahrung im Bereich der Schuh-Hygiene hat machen dürfen, dass es meinem Großvater nicht nur um die blinde Beachtung irgendeines kategorischen Imperativs ging. Schuhputzen war für ihn auch eine Sache der Lebensfreude.

Nun ist mein Großvater tot, und weitere entscheidende Erinnerungen an ihn habe ich leider nicht. Ich kann daher nicht wirklich sagen, dass ich von ihm für andere Aspekte meines Lebens vieles gelernt habe. Auch nicht von Konrad Adenauer. Aber eins, was ich nie vergessen werde, wurde mir ohne große Worte offenbart: wie man Schuhe richtig putzt – und wie viel Glück das dem Menschen bereiten kann.

Die Aufrichtigkeit und die Vorteile des sauberen Äußeren sind, von
mehr oder weniger asketischen Persönlichkeiten aber auch von anderen, die eher als mondän gelten, häufig gepriesen worden. Der Ur-Dadaist Walter Serner zum Beispiel, der alles immer besser zu wissen schien, empfahl in seinem lehrreichen Handbrevier für Hochstapler (1927) gleich zweimal: „Reinige dich stets gewissenhaft. Täglich kann dir das Glück nahen“ und: „Schmutzig einherzugehen darfst du dir nur in sehr gefährlichen Fällen gestatten“. Andy Warhol stellte fest: „Du brauchst nur die richtige Einstellung, die richtige Kleidung – und sauber zu sein“. Und für F. Scott Fitzgerald war Sauberkeit eine Tugend, ein Symbol der Rechtschaffenheit. In Die Schönen und Verdammten (1922) dokumentiert er die Verfallsgeschichte eines jungen, nichtstuerischen reichen Paares. Am Anfang des Romans lesen wir über den (Anti)Helden Anthony Patch: „Überdies war er, der Erscheinung nach und in Wirklichkeit, sehr reinlich, und zwar von jener besonderen Reinlichkeit, die von der Schönheit borgt“. Am Ende, als die Eheleute ihren moralischen Untergang im großen Stil vollbracht hatten, beschreibt ein Mädchen Anthonys Gattin, die ehemalige Schönheit Gloria, mit den Worten: „Ich kann sie nicht ausstehen, weißt du. Sie kommt mir so – so gefärbt und unsauber vor, falls du weißt, was ich meine“…

Ob tugendhaft oder nicht, scheint heute die adrette Manier des sauberen Aussehens, insbesondere was das Schuhwerk angeht, etwas – um es vorsichtig zu formulieren – entkräftet zu sein. Es reichen ein paar U-Bahnfahrten (und eine feige versteckte Kamera) aus, um die verbreitete Geringschätzung der Schuhputzpflicht zu verifizieren, deren Erfüllung meinem Großvater ein beglücktes Leben beschert hat. Menschen aller Couleur, Konfession und Alter; tausende, vielleicht Millionen von Menschen, die sonst (relativ) gepflegt wirken, laufen in dreckigen Schuhen herum. Warum?



Beweise

Manchen wird es überspitzt erscheinen, Gründe für ein Verhalten zu suchen, das bloß als unreflektierte, absichtslose Schlampigkeit beschrieben werden könnte: nicht alles ist ein Symptom von irgendetwas. Andere werden auf den Fortschritt der Modebranche verweisen: In dieser großen Zeit, in der Stoff-, Leinen-, Lederschuhe (aus bekannten Ursachen) so gut wie nichts kosten, warum sollte man auf die dürftige Idee kommen, sie zu pflegen? Da sie folgerichtig nicht mehr halten, kommt man sowieso auch nicht dazu, ein Paar Schuhe putzen zu müssen, wenn schon ein neues gekauft werden muss!

Das mag stimmen. Und doch geben oft unsere Anziehgewohnheiten von uns viel mehr preis, als uns selbst bewusst ist. In diesem Sinne, einige Hypothesen über zwei – merkwürdig gegensätzliche – seelische Anlagen, die sich hinter manch schmutzigem Schuh verbergen:


* Der Hang zur Natürlichkeit. Zwei Beispiele: ein Freund findet es dekadent, Hemden zu tragen und schlimmer: sie davor zu bügeln. Eine Freundin hält Männer, die die kleinliche Konvention pflegen, (nicht-geruchsneutrales) Deo zu benutzen, für völlig affektiert, unappetitlich und passé. In beiden Fällen – auch wenn in ungleicher Stärke – scheint das altertümliche Vorurteil zu agieren, die Sorge um das Äußere sei bloß die Sorge um die Oberfläche und bekunde eine Vernachlässigung (oder gar die Abwesenheit!) des ‚wahren’ Inneren. Das glatte Hemd, der selbstpolierte Schuh sind spießig, verlogen. Die schmierigen Arbeiterstiefeln, die rohe Achsel, ein Zeichen der Freiheit und vielmehr: der Authentizität.

Es geht dabei um eine zeitgemäße Version der frühneuzeitlichen Passion für den ‚edlen Wilden‘. Und auch hier wird moralisch interpretiert: in umgekehrter Fitzgerald’scher Manier wird natürliche Schmuddeligkeit für ehrwürdig gehalten: nur wer ein bisschen schmuddelig aussieht, und womöglich riecht und schmeckt, kann echt echt sein. Ein dubiöses Verfahren, das dennoch eine – einigermaßen – ansehnliche Genealogie hat. Zu ihr gehören breite Zweige der ökologischen Bewegung, der Hippismus und Dr. Gustav Jägers Normalkleidung an der Jahrhundertwende.

* Die Vorliebe fürs ‚Trashige’. Der prominenteste Präzedenzfall dieser postmodernen Neigung ist die Punkkultur mit ihrer Vereinigung von ästhetisch Aggressivem und sozialer Subversion. Den dekadenten Werten der bürgerlichen Gesellschaft stellt man ein provozierendes Auftreten und eine subversive Kleiderordnung entgegen.

In ihrer unpolitischen, vielleicht naivsten Form – die an anderer Stelle ausführlich kommentiert wurde – drückt aber diese Vorliebe fürs äußerliche Grobe keine gesellschaftskritische Einstellung mehr aus, sondern vor allem ein modisches Statement.


Beispielhaft für diese Geste der Rebellion als Lifestyle und Coolness sind zwei in ihrer Natürlichkeit eloquente Kommentare eines Sartorialist-Bilds. Eine enthusiastische junge Leserin bemerkt: “Amazing boots! Very inspiring and smells like freedom style”. Eine andere schreibt großbuchstabenlos: “this is my favorite look for boots. a little dirty, grunge, DGAF kind of attitude, but still stylish in that unexpected way”...

Unter den vielen Manifestationen dieser ‚DGAF‘-Mode der Nonchalance ist das Phänomen der verkommenen Boots besonders beliebt und verbreitet, wie man hier deutlich sehen kann.


© HDCA, 2012

5.4.12

Materialien zur Erforschung des [Berliner] Hipsters (2)


Die oppositionelle Gestik des Hipsters – so Kritiker wie Mark Greif – ist eine Farce, seine political incorrectness eine Fassade. Diese These beruht auf zwei Feststellungen:

1) Der Hipster ist apolitisch. Wenn es eine Hipster-Rebellion gibt, findet sie nur dort statt, wo Individualität und Geschmack angesprochen werden. Was Greif über den New Yorker Hipster schreibt, scheint auf den ‚globalen Hipster’ bezogen werden zu können: die Hipster zeigen, was passiert, wenn „Eliten im Allgemeinen und die weiße Mittelschicht spezifisch ihre Rebellion nur in Bereichen austragen, die ihr eigenes Vergnügen und ihren Komfort betreffen“ (S. 18): Mode, Musik, Design…

Eine antikonsumistische Haltung ist darum abwesend (im Gegenteil: der Hipster steht für eine Verfeinerung des Konsums). Die antibürgerliche Exzentrizität soll im ästhetischen, nicht im politischen Sinne verstanden werden. Und so ist der Hipster hinter dem Oppositionsvorwand eigentlich konservativ. Wenn man von einer Hipster-Ideologie sprechen möchte, dann geht es hier lediglich um eine Art Ideologie des guten Geschmacks.

2) Dementsprechend besteht die große ‚verändernde‘ Begabung des Hipsters vor allem darin, alltägliche Gegenstände geschickt in zu begehrende, kunstartige Artikel umzuwandeln, gewöhnliche Dinge als Instanzen eines auserlesenen Geschmacks zu interpretieren. Durch diese Interpretation wird aber auch ihre Vermarktung angetrieben.

So haben wir die zunächst einfach nur exzentrischen Frisuren, Klamotten, Accessoires, die dann Mode werden, die minimalistischen Rennräder, die den früheren ‚Hype‘ der Mountainbikes verfinstern, die Second-Hand-Kleider, die derweil teurer als die neuen sind. Das Gleiche, könnte man fast sagen, gilt für die Einstellung der Coolness überhaupt.

Interessant dabei ist nicht so sehr, dass unbedeutende Motive zur Kunst, sondern zu Konsumobjekten werden, zu Waren. (So muss die ganz linksamerikanische Aussage Greifs in der F.A.Z verstanden werden: „sosehr ich Warhol schätze, ich denke, es wäre besser, er hätte nicht existiert“…)
Diese Begabung, das Gewöhnliche, in diesem Fall Räume, zu mystifizieren, beschreibt sehr gut Tobias Rapp in seiner Darstellung der Entwicklung – oder man möchte sagen: der Schöpfung – der Gegend um den Berliner Hackeschen Markt nach dem Mauerfall:

Der Berlin-Mitte-Hipster, der diese Gegend einmal kolonisierte, hatte […] im Grunde nur eine hervorstechende Fähigkeit: Er wusste mit Raum umzugehen. […] Die Räume waren da, sie warteten darauf, interpretiert und bespielt zu werden“ (S. 162).

Nach Rapp erfolgte die allmähliche Eroberung durch das Wohnen und das Schaffen einer (anfangs geheimen, danach etablierten) Szene in der Form von Clubs und Galerien. Auch hier wird das Marginale oder Verruchte durch die Vermittlung einer kunstartigen Interpretation zum ‚Szenigen’, Coolen, oder wie immer man es nennt. (Derselbe Prozess der Neuerfindung traditioneller, melting-pot- oder gar unterentwickelter Großstadtgegenden beschreibt Greif für seine New Yorker Viertel.)

Was danach passiert, ist klar:

Einerseits die nachfolgende Übernahme (und Weitererfindung) der Räume, die der Hipster einst erfunden hatten, seitens des Marktes. (Rapp: „So kamen dann irgendwann die großen Modekonzernen aus aller Welt…“ [S. 163].)

Andererseits die gefürchtete ‚Gentrifizierung’: jene Menschen- und Stadtentwicklung, die in diesen Zeiten trendiger Kapitalismuskritik zu einem trendigen Begriff geworden ist – und die sehr zu genießen ist (solange man das Geld dafür hat).

Greif erzählt von der Verjagung der Ureinwohner, der Verschwindung traditioneller Kleinlokale, der Verteuerung und insgesamt der Standarisierung der Lower East Side, einer Gegend, die man „einst für ihre Authentizität gepriesen hatte“. Rapps Bericht ist auch eloquent: von den ‚alternativen’ Läden um den Hackeschen Markt scheint fast ausschließlich das ‚Café Cinema’ als eine Art Insel mitten H§M-, Fred Perry-Filialen und Touristen zu überleben.

Und Die Welt fasst alles zusammen: „Erst entdecken die Hipster einen ehemals heruntergekommenen Bezirk (wie Neukölln) für sich, dann springen die Immobilienmakler auf und zum Schluss setzen die organisierten pub crawls den Genickschuss - hier geht nichts mehr, Kiez ausgeblutet. Zu dem Zeitpunkt ist der Hipster längst weitergezogen. Zurück bleiben genervte Anwohner, die über gestiegene Mieten klagen.

Der Hipster ist kein Rebell. Er ist eine Art freiwilliger und doch unbeabsichtigter Agent des Kapitalismus. Was auf dem ersten Blick als Exzentrizität oder sogar Avantgarde erscheint, ist – Trendsetting. (Der Hipster fungiert als „Mittelsmann zwischen der Straße und den Marketing-Abteilung der Konsumgüterindustrie“ [Rabe, S. 190].)

Man fragt sich natürlich, ob dieses Schreckensbild stimmt. Zum einen klingt das alles nach der immer wieder kehrenden, fatalistischen Klage einer antiquierten Generation gegenüber einer – immer wiederkehrenden – lasterhaften Jugend. Zum anderen ist die kritische Darstellung des Hipsters als scheinrebellischer, konsumorientierter, heuschreckenartiger und letzten Endes naiv-ironischer ‚junger Mensch’ eine idealisierte Darstellung – und, ach ja: ‚jeder Mensch ist eine Welt für sich‘ usw.

Das Problem ist aber, erstens, dass der Hipster gar kein Vertreter einer ‚lasterhaften’ Gegenkultur ist, sondern bloß ein raffiniertes Nebenprodukt und Instrument von etwas wie einem ‚Kapitalismus-Weltgeist‘ hinter der Tarnung der Gegenkultur.

Zweitens, Greifs Reflektionen entstehen aus Beobachtungen des Verhaltens der (neu)Bewohner spezifischer amerikanischer Viertel. Rapps Thesen aus der Geschichte der ‚Normalisierung’ von Berlin-Mitte. Es ist leicht festzustellen, dass solche Reflektionen und Thesen sich auf das Hier und Heute ganz einfach übertragen lassen.

In diesem Sinne kann man gespannt sein, wann das erste Starbucks (o.Ä.) in Berlin-Neukölln aufmacht. Und wie es dann weiter geht (man denke z.B. an die junge Entwicklung des Berliner Rosenthaler Platzes).

Greifs Fazit ist, trotz allem, optimistisch: „Wenn diese konsumorientierte Kultur im hoffnungsfrohen Zeitalter von Barack Obama überlebt und sich verändert, dann werden ihre Anhänger vielleicht immer noch shoppen gehen – aber vielleicht haben sie ja eine vernünftiger zusammengestellte Einkaufsliste“ (S. 140)…

Abgesehen von der inzwischen deprimierenden Referenz auf Obamas ‚hoffnungsfrohes Zeitalter‘, scheint es schwer Greifs Hoffnungen zu teilen. Besser: in diesem Kontext ist es sinnlos über Hoffnungen zu sprechen:

Der Hipster ist ein Produkt der Welt, wie sie ist. Der ist doch kein Teufel. Im Übrigen – wie jemand kürzlich das Thema etwas prosaisch zusammenfasste – macht nicht dieser sogenannte Hipster dasselbe wie wir alle: ganz authentisch sein zu wollen – und dabei ganz Mainstream zu bleiben?


© HDCA, 2012

27.2.12

Materialien zur Erforschung des [Berliner] Hipsters (1)

Der gerade erschienene neongrüne Sammelband

Berlin: Suhrkamp 2012

kommt rechtzeitig dazu, einem merkwürdigen Subkultur-Phänomen, das schon seit einigen Jahren auf den Großstadtstraßen und im Netz mehr oder weniger ‚polemisch‘ rumspringt, eine gewisse intellektuelle Aura zu verleihen.

Einige parodistische bis grausame Hipster-Darstellungen sind schon berühmt, z.B. die soft-schwarze Satire „Hipster Hitler“, das Biopic „Der Berliner Hipster“:


oder die liebenswürdige Hasstirade „Being a Dickhead’s Cool“ über den Londoner Hipster (aber heute ist alles irgendwie das Gleiche):

 
Es fehlt auch nicht an Begriffsgeschichten und Genealogien des modernen Hipsters. Seine jetzige Suhrkampizierung scheint somit auf fruchtbaren Boden zu fallen.

Das Buch enthält Beiträge aus einer 2009-Tagung zur Analyse und Kritik des ursprünglichen, d.h. amerikanischen Hipsters. Zwar beginnt seine Frühgeschichte in der Jazz-Szene der 40er, die Essays widmen sich aber der zeitgenössischen Großstadtfigur, die als einer der Hauptprotagonisten der soziologischen Entwicklungen der letzten 20 Jahre in Vierteln wie Williamsburg und der Lower East Side in New York agiert. Besonders scharfsinnig sind zwei Texte von Mark Greif – Herausgeber der Zeitschrift n+1, Occupy-Chronist und Literaturdozent an der New School. Dazu kommen Beiträge der deutschen Autoren Tobias Rapp, Jens-Christian Rabe und Thomas Meinecke, die das Thema nun deutschlandfähig machen.

Die Idee des Buches ist disparat und doch lobenswert. Die Texte sind mutige Experimente (pseudo)wissenschaftlichen Im-Dunkeln-Herumtastens: Versuche, die Soziologie eines gegenwärtigen Phänomens zu skizzieren, das äußerst schwierig zu definieren ist.

Wer ist dieser (un)populäre Hipster? Gibt’s den wirklich? Diese Fragen denkt man im ersten Moment kann doch keiner ernst nehmen. Man guckt skeptisch ins Buch rein, erkennt das Problem, geht auf die Berliner Straße – und kann das Ganze am Ende nur faszinierend finden. (Das gilt auch für die frühere Literatur zum Thema, wie Richard Lloyds Neo-Bohemia: Art and Commerce in the Postindustrial City [2006].)

Das Buch wurde Anfang Februar im HBC-Berlin präsentiert. In charmanter Gesellschaft und aller Ehrlichkeit habe ich dort versucht zu verstehen, worum es hier eigentlich geht. Schwer. ‚Hipster‘, inzwischen zu einem Spottwort geworden, ist semantisch so schwammig wie, sagen wir mal, ‚Arschloch‘. Für beide Begriffe gelten folgende Lehrsätze: Jeder hat irgendwann in seinem Leben einen X kennen gelernt. Irgendwie weiß jeder, was ein X ist, niemand kann ihn aber genau definieren. Niemand will ein X sein, trotzdem ist für alle klar: den X gibts. Ah, und auch: jeder fürchtet, mit ihm das eine oder das andere Attribut zu teilen.

So finster sieht es mit dieser ‚Debatte‘ aus. Und dennoch: an einem Abend reich an Umschweifen und wahnsinnigen Fragen („Ab wann ersetzt beim Berliner Hipster die russische Pelzmütze die Trucker Cap?“...), drei ausgesprochene Hypothesen geben Anlass, eine (knappe, unvollständige, verallgemeinernde und natürlich idealtypische) Charakterisierung des Hipster zu wagen. Wie es scheint, ist diese Charakterisierung auf globaler Ebene gültig:

* der Hipster ist ein rebellischer Kapitalist/Konsument [M. Greif]

* der Hipster ist ein Raumschaffender [T. Rapp]

* der Hipster ist ein junger, modebewusster Großstadtmensch [Das herkömmliche, platte Stereotyp]

Fangen wir von unten an.

Da sich keiner als Hipster definiert, da ihn keine Musikrichtung identifizierbar macht (im Unterschied zu Rappern, Punks usw.), ist die sicherste Form, sich ihm anzunähern, die Auflistung von Modeaccessoires. Z.B. dieses entzückende Hipster-Porträt aus der Süddeutschen Zeitung:

jene dürren Jünglinge, die sich hautenge Röhrenhosen, Turnschuhe und ironisch bedruckte T-Shirts anziehen, im Gesicht ein Vollbart und auf der Nase eine überdimensional große Hornbrille tragen, auf dem Kopf einen angesagten Haarschnitt drapieren und sich um die Schulter einen Jute-Beutel mit aufgedruckter Aussage hängen“…

Man hätte auch noch ‚Porno-Schnurrbart’, Vollbart, ‚Zweite-Hand-Klamotten’, ‚Wayfarer’, iPhone oder ja: ‚russische Mütze’ sagen können. Es ist in jedem Fall deutlich, wovon die Rede ist.

Das Porträt ist albern – die anfängliche Insider-Mode ist inzwischen Mainstream geworden. Aber man kann dadurch zwei Grundneigungen diagnostizieren:

1) Es geht beim Hipster (wie beim jeden Milieu) um „Abgrenzung, Narzissmus und ein Gefühl der Überlegenheit“ (S. 14). (Kein Wunder, dass Greif an anderer Stelle Pierre Bourdieus Die feinen Unterschiede [1979] als die Soziologie des Hipsters preist.)

2) Diese Subkultur (wie andere) wies am Anfang ihrer heutigen Form eine gewisse Begeisterung fürs Harte, Grobe, Ordinäre, oder gar Unästhetische auf. Daher die ganze – für den amerikanischen Fall auf die white trash verweisende – Macho-Andeutung: die Tätowierung, die Porno-Anspielung, das frühe weiße Tank-top. Daher auch jene Vorliebe für alles Trashige, die heute so modisch ist (und zu der der besagte Berliner Jute-Beutel gehört) und sicherlich der relativ junge Sternburg-Hype. [Gegenfrage:  Was bedeutet nun die Neigung zum Androgynen, zur femininen Darbietung des männlichen, die überall augenfällig ist, was bedeutet die Kultur der Skinny Jeans? Ein weiterer ironischer Dreh?]

Merkmale, die auf das von immer hinzuweisen scheinen: auf eine rebellische, ironisierende Geste gegen die bürgerliche Ordnung (aus der der Großstadthipster kommt) usw. Genau die Tatsache, dass die Leidenschaften der Hipster „scheinbar gewalttätig“ sind und „bestehende Grenzen verletzen“, dass ihre allgemeine Einstellung politically incorrect sein will, sichert ihnen einen Platz als „oppositionelle Bewegungen“ (S. 120).

Also, zur Beruhigung: noch eine gute alte, etwas anarchistische Subkultur – nein: eine adoleszente Gegenkultur unter anderen Gegenkulturen. So weit, so gut.

Die Sache scheint aber komplizierter zu sein. Wenn die Spekulationen von Greif & Co. richtig sind, ist die ‚Rebellion‘ des Hipsters ganz anders, als die anderer oppositioneller Subkulturen. Und hier fängt es an, wirklich interessant zu werden. Denn diese Rebellion ist nämlich gar keine.


© HDCA, 2012