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Walter Serner (1889-1942) |
„Huren machen oft während des Stehens oder beim Umkehren
Bewegungen mit dem Absatz, die auf den ersten Blick die Straßen-Habituée
verraten. Hast nicht auch du kleine Gewohnheiten, die mehr von dir preisgeben,
als rätlich ist?“
So fragt Walter Serner, der Ende August vor siebzig Jahren starb,
in seinem Handbrevier für Hochstapler und solche,
die es werden wollen (1927). Ob es in diesem Handbuch noch etwas zu
lernen gibt? Durchaus: am Ende dieser Einleitung sind einige erbauliche
Fragmente zu „Kleidung und Manieren“ zu finden.
Das Handbrevier wird oft
als frecher, unverblümter, nihilistischer Leitfaden für Angeber beschrieben.
Ein Herausgeber nennt es einen „Knigge
für Zyniker“, der „in jeden Smoking
gehört“. Vergisst man den Tratsch für eine Sekunde, bleibt eine Tatsache:
so wie es Moralisten gibt (Pascal, La Rochefoucauld – und den Dr. phil. Jakob Fabian), gibt es auch Amoralisten. Sie sind nicht weniger an
der Ethik interessiert als die Moralisten, und auch ihnen brennt die Frage
unter den Nägeln, wie denn zum Teufel man zu leben hat. Und so ist die Kunst
von Serners Handbrevier für Hochstapler
weniger eine Trick-Kunst als eine Gesellschaftskunst. Und mehr als das –
Stichwort: zôon politikon – ist sie Lebenskunst. Zwei
angesehene Vorfahren des Handbreviers:
Ovids Ars
amatoria und Baltasar Graciáns Handorakel (1647).
Walter Serners Leben war – um das Mindeste
zu sagen - abenteuerlich. Am 15.
Januar 1889 als Sohn jüdischer Eltern in der tschechischen Stadt Karlsbad
(heute Karlovy Vary) geboren,
studierte er Jura in Wien und Greifswald. Dass er die Staatsprüfung bestehen
konnte, hatte er, laut seinem eigenen Bericht, nur Ovid zu verdanken: „ich brachte nämlich das Gespräch auf ihn,
und da meine Examinatoren Menschenkenner waren und echte Humanisten, wurde ich doctor
utriusque juris“ (aus Serners zweiseitiger Autobiographie: „Ich“ [1925]).
1911 ging Serner nach Berlin, wo er sich vierzehn Tage hindurch
langweilte, „weil ich nachts schlief“.
(Später wurde es besser: „Als ich anfing,
es umgekehrt zu halten, amüsierte ich mich drei Jahre…“). In den Jahren vor
dem Ersten Weltkrieg lebte er auch zeitweise in Karlsbad und Paris. 1915 zog
er, wie viele Kriegsgegner und pazifistische Künstler jener Zeit, nach Zürich.
In Zürich lernte Serner den Maler Christian Schad kennen, der zu
seinem engsten Freund wurde, und schloss sich 1917 dem Mouvement Dada an, das ein Jahr
zuvor von Tristan Tzara, Hugo Ball, Hans Arp u.a. im legendären „Cabaret
Voltaire“ gegründet worden war. Die Dadaisten, die eine der ersten und
wichtigsten Avantgardebewegungen des 20. Jh. bildeten, wehrten sich
bekanntermaßen gegen die Werte der bürgerlichen Gesellschaft mittels
irrwitziger Sprach- und Kunstexperimente, sowie clownesken Geschreis. (Diese
werden in Schads wunderbaren Erinnerungen an Serner lebhaft beschrieben: Relative
Realitäten [Augsburg:
MaroVerlag 1999].)
1918 schrieb Serner in Lugano die Letzte
Lockerung – Manifest Dada, das aber erst 1920 veröffentlicht werden
konnte (später wurde sie zum ersten Teil des Handbreviers). Inzwischen hatte sich Tzara des Inhaltes der Letzen Lockerung großzügig bedient
(Schad und André Breton sagten es deutlicher: es ging einfach um ein Plagiat
von Serners Manifest vonseiten
Tzaras) und sein eigenes Dada Manifesto
veröffentlicht (1918), wodurch er in Paris zum größten Guru des Dadaismus
wurde. Serner entfernte sich von den Dadaisten um Tzara, fing ein äußerst
unstetes Reiseleben an (oder besser: setzte es fort) zwischen Spanien,
Frankreich Italien, Deutschland, Österreich und der Schweiz – und wandte sich
der Kriminalliteratur zu.
Serners erzählerisches Werk kann in vier Kategorien eingeteilt
werden: i) Gauner-Geschichten, ii) Prostituierten-Geschichten, iii)
Zuhälter-Geschichten, iv) Liebesgeschichten zwischen Prostituierten und
Zuhältern. Seine literarischen Werke sind vier Bände „hanebüchener
Geschichten“, der mehr oder weniger berühmte Zuhälterroman Die Tigerin – Eine absonderliche Liebesgeschichte (1925; verfilmt
1992), und das Gaunerstück Posada oder
Der große Coup im Hotel Ritz, das im März 1927 im Berliner Theater am Zoo
aufgeführt wurde – nämlich einmalig, denn wie es in der späteren Buchausgabe
steht, wurde „gegen die Absicht der
Direktion, die Aufführung zu wiederholen … von der Polizeibehörde Einspruch
erhoben“.
Serners Ruf war nie besonders gut – was ihm eine Zeit lang nicht
missfiel. Sein Verleger Paul Stegemann schilderte ihn mit folgenden Worten: „Er ist internationaler Hochstapler im
allergrößten Stil. Seine Lehrjahre verlebte er in Paris als Zuhälter. In seinen
Büchern steht nichts, was nicht gelebt wurde“ usw. Als ihm das Pflaster zu
heiß wurde, dementierte Serner dies in der erwähnten Autobiographie. Bald aber
standen seine Werke auf den Listen der „Schund- und Schmutzschriften“ unterschiedlicher
Landesjugendämter. (1931 konnten nur Gutachten von Alfred Döblin und Max
Herrmann-Neisse das Verbot der Tigerin
verhindern.)
1925 schrieb der berühmte Kritiker Theodor Lessing eine lobende
Rezension der Bücher Serners. Daraufhin veröffentlichte Alfred Rosenberg,
Ideologe der NSDAP, ein Artikel gegen Lessing und Serner, der mit den Worten schließt: „Leben heißt für den Juden: Moder schaffen und als Wurm in ihm wirken“.
(Lessing wurde 1933 von nationalsozialistischen Attentätern erschossen.) Der
Krieg war also erklärt. 1927 schrieb Serner an Christian Schad: „ich werde so gehasst, man arbeitet so sehr
gegen mich, dass ich anfange, die Sache ekelhaft zu finden“, weshalb er
sich bald „abzukehren“ plante. Das tat er auch: kurz darauf hat sich Serner
fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen (Auch Schad hat nie
wieder von ihm gehört.)
Man weiß, dass Serner 1929 in tschechischen Hotels wohnte. Man
weiß, dass er Anfang der dreißiger Jahre aus der Schweiz korrespondierte. Was
danach passierte, war lange ungewiss. In seinen Erinnerungen schreibt Schad:
„Für möglich halte ich, dass Serner in die U.S.A. gegangen ist. …
Eine andere Legende wieder lässt ihn in Südamerika ein abenteuerliches oder
auch bürgerliches, auf jeden Fall literaturfreies Leben führen, ähnlich dem
Rimbauds. Oder sollte er … vielleicht doch den Entschluss gefasst haben … unter
anderem Namen eine bürgerliche-juristische Existenz zu akzeptieren.“
Heute wissen wir mehr. 1938 heiratete Serner die
Berlinerin Dorothea Herz. Mit ihr ließ er sich in Prag nieder, wo er als
Sprachlehrer arbeitete. Nach der Besetzung durch die Nazis stellte das Ehepaar
zwei mal Ausreiseanträge nach Shanghai, die abgelehnt wurden. Serner und seine
Frau lebten im Prager Ghetto bis 1942. Am 10. August dieses Jahres wurden sie
von den Nationalsozialisten in das Konzentrationslager Theresienstadt
deportiert. Zehn Tage später wurden sie weiter nach Riga abtransportiert, wo
sie wahrscheinlich am 23. August ermordet wurden.
© HDCA, 2012
♦ ♠ ♥ ♣
Aus dem Handbrevier für
Hochstapler und solche, die es werden wollen
* Tue stets, als würdest du das Leben ernst nehmen. Die Klugen
halten dich, falls sie es glauben, für vertrauenswürdig; glauben sie es nicht,
für klug.
* Neigst du zum Exzentrischen, Überschwenglichen, so gestatte dich
dir nur für den Privatgebrauch. Publikum würde dich schnell albern finden.
* Wer, kaum eingetreten ist, aller Augen sofort auf sich lenken
will, ist entweder von Beruf Schauspieler oder ein erbärmlicher Stümper.
* Schweige nur dann lange, wenn du die Situation vergiften willst.
* Wortkarge Menschen sind im allgemeinen schwer zu behandeln.
Behandle sie gar nicht: sie werden die Sprache wiederfinden.
* Will es dir nicht gelingen, über einen Menschen ins Klare zu kommen, so versuche, ihn dir nackt vorzustellen. Fällt diese Vorstellung zu seinen Gunsten aus, so hast du immerhin schon einen Schimmer von ihm.
* Wenn du nicht schön bist, so hast du es überall doppelt schwer. Sehr oft aber wirst du die Hälfte deiner Kräfte sparen können, wenn du eine schöne Person neben dich stellest und, falls es erforderlich sein sollte, an deiner Statt zurücklässt.
* Die Kleidung lässt nur dann einen Rückschluss auf den Träger zu,
wenn es überhaupt nicht schwer fällt, diesen zu beurteilen. Wo du also Grund
hast, anzunehmen, einen Kerl vor dir zu haben, übersieh vorerst seine Kleidung
gänzlich. Hinterher vermag sie dir vielleicht etwas zu sagen.
* Durch nichts machst du dich schneller verdächtig als durch einen
unbürgerlichen Lebenswandel, ohne dass es möglich wäre, zu erkennen, wo sein
Vorteil liegt. Streue aus, dass du auf der Suche nach tüchtigen
Automobil-Agenten seist, und alle Welt wird dir hoffieren.
* Sage niemals, auch wenn es der Fall ist, dein Smoking stamme aus
Piccadilly. Man würde es dir nicht glauben, wenn du die Rechnung vorwiesest.
* Die Mode der schwarzen Hornbrillen, welche der Funktion obliegt,
Geist anzuschminken, steht durchaus neben jenen Vollbärten, die aus
dreißigjährigen Halunken fünfzigjährige Respektspersonen machen. Verzichte auf
solche Kindereien, welche dir weniger Vertrauen eintragen als eine gut gewählte
und raffiniert gebundene Krawatte.
* Schmutzig einherzugehen darfst du dir nur in sehr gefährlichen
Fällen gestatten.
* Sei so kokett, wie es nur angeht. Aber sehr darauf bedacht, dass
niemand es bemerkt. (Excepté: Unterwäsche und Kenner der großen Groteske.)
* Bei der Wahl deiner Kleidung lasse dich nur von deinem
Privatgeschmack leiten. Er wird dir das Höchstmaß von Wirkung dadurch sichern,
dass du dich in deiner Hülle nicht nur auf der Höhe fühlst, sondern überhaupt
wohl. Denn auch, was im Allgemeinen nicht gefällt, wirkt, wenn es gut getragen
wird.
* Zu Verkleidungen greife selten. Sie färben stets ein wenig auf
dich ab.
* Bleibe in deiner Kleidung bei dem dir vorteilhaftesten
Grundtypus, den du nur durch jene Modedetails variieren darfst, die für dich
sich eignen. Sei lieber ein wenig unmodern als reduziert.
* Wenn dein Gesicht nichts weiter zu
tun hat, wahre darauf stets einen leichten Schimmer angenehmer Unzufriedenheit.